Enneagramm

9 Charakter-Typen im Modell

Erkenne dich selbst - wie individuelle Muster unser Verhalten steuern

Sind wir mit unseren eigenen Denkmustern und Glaubenssätzen vertraut, können wir unsere Kommunikation in konfliktgeladenen Situationen leichter auf andere einstellen.

von: Henri Marzillier
mit Fotos von: David Suarez

Sich selbst erkennen

Schon im antiken Griechenland hieß es am Eingang zum Orakel von Delphi „Erkenne dich selbst!" Pilger, die nach Delphi kamen, wollten mit Hilfe des Orakels einen Blick in die Zukunft werfen, bevor sie wichtige Entscheidungen trafen. Die Tempel-Inschrift forderte die Ratsuchenden jedoch dazu auf, individuelle Probleme und Fragestellungen durch die Auseinandersetzung mit der eigenen inneren Persönlichkeit aufzulösen.

Wenn wir wissen, wer wir selbst sind und warum wir uns wie verhalten, können wir die richtigen Entscheidungen in unserem Leben leichter treffen.

Apollon (röm. Apollo) - griechischer Gott des Lichts, der Sonne und der Künste, Begründer des Orakels von Delphi - wurde von den Römern als Gott der Selbsterkenntnis verehrt.

Mit dem Enneagramm die eigene Persönlichkeit verstehen

Das Enneagramm („Neuner-Figur”) ist ein interessantes Modell zur Erforschung von Charakteren. Entstehung und Herkunft des Modells lassen sich nicht mit Sicherheit nachverfolgen. Es gibt Vermutungen, dass bereits die Chaldäer (semitisches Volk in Südmesopotamien im 1. Jahrtausend v. Chr.) vor mehr als 3000 Jahren damit gearbeitet haben, oder dass es der Schule des griechischen Mathematikers Pythagoras entstammen könnte.
Das mündlich überlieferte Ur-Enneagramm gab es wahrscheinlich nur als Beschreibung von neun Leidenschaften. Die Ansammlung dieser emotional gesteuerten Haltungen dem Leben gegenüber liest sich wie ein mittelalterlicher Sündenkatalog:

Neun Leidenschaften im Ur-Enneagram

„Persönlichkeit erforschen, Neuer-Figur, Leidenschaften, Sündenkatalog - am Ende ist es ja nur ein Modell!”

In den 1920-iger Jahren kam das Enneagramm nach Westeuropa

Bekannt ist, dass das Modell mit dem griechisch-armenischen Schriftsteller, Choreographen und Esoteriker Georges I. Gurdjieff Anfang der 1920-iger Jahre in den Westen gelangte. Gurdjieff, der als spirituellen Lehrer vor allem in Russland und Frankreich lehrte, gründete das „Institut für die harmonische Entwicklung des Menschen” in der Nähe von Paris und zog dort schnell eine illustre Schülerschaft internationaler Künstler und Intellektueller an - darunter der amerikanische Architekt Frank Lloyd Wright oder die neuseeländisch-britische Schriftstellerin Katherine Mansfield.
Gurdjieff nutzte das Enneagramm für Prozesse der Bewusstseinstransformation - was schon damals nicht nur für die Kunstwelt von großem Interesse gewesen sein dürfte.

Wir können das Enneagramm als Kaleidoskop menschlicher Leidenschaften nutzen. Schauen wir uns die verschiedenen Charaktere und die Varianten ihrer emotionaler Ausprägung an und lassen unsere Erkenntnisse in Kommunikation mit ihnen einfließen!

Der Esoteriker und spirituelle Lehrer Georges I. Gurdjieff (1866-1949) brachte das Enneagramm Anfang der 1920iger Jahre nach Westeuropa

Später wurde das Modell modernisiert

In den 1980-iger Jahren wurde das Modell neu interpretiert. Die moderne Psychologie verknüpfte das Enneagram mit aktuellen psychologischen Konzepten: An die Stelle „lasterhafter Leidenschaften” treten Energien, mit denen wir die Erfüllung unserer Grundbedürfnisse anstreben. Dabei werden drei psychische Grundbedürfnisse vorausgesetzt: Autonomie, Liebe und Sicherheit. Diesen Grundbedürfnissen werden die ihnen entsprechenden Energien Bauch-, Herz- und Kopfenergie zugeordnet. Aus den neun Leidenschaften des Ur-Enneagramms werden Charaktermuster. Das modernisierte Enneagram zeigt uns jetzt auch, mit welchen Schutzstrategien wir auf akute Notsituationen reagieren.

Dem Grundbedürfnis nach Autonomie ist die Bauchenergie zugeordnet Sie umfasst alle instinktiven Impulse, mit denen wir versuchen, dieses Bedürfniss durchsetzen. Im Ur-Enneagramm finden sich hierzu die Leidenschaften Lust, Trägheit und Zorn.

Dem Bedürfnis nach Liebe und Beziehung ordnet das Modell die Herzenergie zu. Hiermit sind zunächst alle emotionalen Qualitäten gemeint, die Beziehungen zu anderen Menschen stiften und durch die wir uns mit anderen verbunden fühlen – also Nähe, Zugehörigkeit und Bindung im weitesten Sinn. Im Ur-Enneagramm finden sich hier die Leidenschaften Stolz, Täuschung und Neid, mit denen wir danach trachten, dieses Bedürfnis durchzusetzen.

Dem Grundbedürfnis nach Sicherheit und Orientierung stellt das Modell die Kopfenergie zur Seite. Alle Wahrnehmungs- und Denkfähigkeiten, die uns in die Lage versetzen, den Überblick über Situationen zu behalten und uns das sichere Gefühl geben, alles im Griff zu haben, dienen diesem Bedürfnis. Mit den die Leidenschaften Geiz, Zweifel und Gier versuchen wir, dieses Bedürfnis zu sichern.

Die mit den Grundenergien verknüpften Schutzstrategien beschreiben unsere Reaktionsmuster - unsere emotionale Ausrichtung, die innere Haltung, aus der wir wahrnehmen, denken, fühlen und uns verhalten. Die Basis hierfür sind unsere Glaubenssätze, die wir im Laufe unserer Entwicklung erworben und kontinuierlich verstärkt haben.

Besondere Relevanz bekommen die Zusammenhänge im Enneagramm in konfliktreichen Beziehungskonstellationen:
Sind uns die Grundenergien und die dahinter liegenden Grundbedürfnisse unseres Gegenübers bewusst, lassen sich Konfliktlösungen durch Mitgefühl oft viel einfacher finden.


Grundenergien sind den ihnen entsprechenden Grundbedürfnissen zugeordnet

Jeder Mensch hat einen Notbereich

Das Enneagramm unterstellt, dass die Grundbedürfnisse von Heranwachsenden niemals vollständig erfüllt wären: Eins der drei existenziellen Grundbedürfnisse wäre in frühen Lebensjahren besonders vernachlässigt worden. Auf diesen einen als lebensbedrohlich empfundenen „Notbereich” bliebe unsere Aufmerksamkeit auch im Erwachsenenalter weiter fokussiert.

Gäbe es andererseits eine Person, die einen ausbalancierten Zugriff auf die drei Grundenergien hätte, könnte diese Person die richtigen Entscheidungen direkt „aus dem Bauch heraus” treffen, hätte ein starkes, durchsetzungsfähiges Ich, das in Gefahrensituationen den Überblick behält und unkompliziert mit offenem Herzen auf andere Menschen zugeht. Ein derart ausgeglichener Idealmensch wäre eine Utopie, behaupten die Psychologen Marie-Anne Gallen und Hans Neidhardt, denn es herrsche ein Spannungsverhältnis zwischen den drei existenziellen Grundbedürfnissen, die im Widerspruch zueinander stehen. (vgl. Gallen, Neidhardt: Das Enneagramm unserer Beziehungen, Hamburg 2014)


„Wenn ich mir das Ganze so anschaue, denke ich, es ist nicht nur ein Notbereich, der mir manchmal zusetzt, sondern mehrere. Die bedingen sich dann, weil sie mit einander zusammenhängen.”

Die Grundenergie wird verformt, um den Mangel zu kompensieren

Dem jeweiligen Notbereich stellt das Enneagramm jeweils drei Notlösungsstrategien gegenüber. Jede der Strategien verwendet die diesem Bereich zugehörige Grundenergie und verformt sie, um das zentrale Dilemma abzuwehren. In Notsituationen unterdrücken wir die entsprechende Grundenergie (Bauch, Herz oder Kopf ), indem wir unsere spontanen Impulse entweder:

  • blockieren - so dass die Not aus den Bewusstsein verschwindet
  • überentwickeln - so dass spontane Impulse überstrahlt werden - oder
  • umfunktionieren - indem wir den Impuls umdrehen und auf uns selbst richten

Sehen wir unsere Autonomie und Selbstständigkeit bedroht, reagieren wir entweder durch Machtstreben (überentwickelt), Passivität (blockiert) oder Aggression gegen uns selbst (umfunktioniert).
Mangel an Liebe und Beziehung führt zu geringem Selbstwert, den wir entweder durch besondere Hilfsbereitschaft (überentwickelt), durch ehrgeiziges Erfolgsstreben (blockiert) oder Minderwertigkeitsgefühle (umfunktioniert) kompensieren.
Ein fehlendes Sicherheitsgefühl bringt uns entweder dazu, dass wir uns distanzieren und zurückziehen (überentwickelt), alles anzweifeln (blockiert) oder strikt positiv denken (umfunktioniert).


„Überentwickelt, umfunktioniert, blockiert - was es alles so gibt!”

Die 9 Charakter-Typen im Enneagramm

Hinter jedem Muster steckt ein bestimmter Charakter. Das Enneagramm klassifiziert Typen aufgrund ihres Aufmerksamkeitsfokus und der darunter liegenden Leidenschaft (vgl. Ur-Enneagramm) - also jenen Schutzstrategien, die uns veranlassen, ein bestimmtes Verhalten an den Tag zu legen.
Die Kommunikationstrainer Jürgen Werner und Ulf Tödter haben folgende Beschreibungen für die verschiedenen Charaktertypen gefunden (vgl. Werner, Tödter: Überzeugen - die Kunst, andere zu gewinnen, Berlin 2009).


„Also wenn es Stress gibt, wechselt man zu einer der anderen „Energien”, die ja auch in einem schlummert.”

In bestimmten Situationen wechseln wir das Charaktermuster

Sind wir mit Situationen konfrontiert, in denen unser Muster entweder nicht die gewünschte Wirkung zeigt (Stresspunkt) oder in denen es keinen Anlass für dessen Einsatz besteht (Trostpunkt), schalten wir in ein anderes Programm - ein anderes Muster kommt in uns zum Vorschein:
Das „moderne” Enneagramm mit dem ursprünglichen kombiniert, gibt uns Aufschluss über die Leidenschaft und die zugrunde liegende Grundenergie eines Menschen. Die Bauchenergie zum Beispiel, vereint die Lust (willenstarke Kämpfer), die Trägheit (friedvolle Vermittler) und den Zorn (gewissenhafte Perfektionisten). Allen drei Charakteren ist der Drang nach Autonomie und Selbstbestimmung gemein und jeder wählt eine andere Strategie zur Durchsetzung dieses Bedüfnisses. Gerät die 9 zum Beispiel mit ihrer originären Strategie, dem friedvollen Vermitteln, in Stress - es lässt sich für sie also keine Autonomie und Selbstbestimmung sicherstellen, wird das Muster gewechelt. Die Pfeile in der Abbildung zeigen an, in welche Richtung am jeweiligen Stresspunkt gewechselt wird. Die 9 wechselt in die Kopfenergie und schlüpft damit in die Rolle des loyalen Skeptikers (6). Gibt es in der aktuellen Situation dagegen keine Probleme, braucht die 9 auch keine Schutzstrategie. Sie kann entspannen und in Rolle des dynamischen Erfolgsmenschen (3) wechseln und ihre Herzenegie fließen lassen.

Stresspunkt: Sind wir in Situationen überfordert, weil unser übliche Schutzmechanismus nicht greift und geraten wir in Stress. Wir verstärken unsere Bemühungen bis wir innerlich plötzlich aufgeben und die Strategie wechseln. Dabei kommen Erlebens- und Verhaltensaspekte zum Vorschein, die zu dem Muster gehören, das in Pfeilrichtung liegt.

„Wenn mein Muster nicht funktioniert, bin ich genervt. Ich wechsle in ein anderes Muster und schlüpfe in eine andere Rolle.”

Trostpunkt: Wenn es uns in der aktuellen Situation gut geht, wir uns sicher, geliebt und integriert fühlen, benötigen wir die Schutzstrategie unseres Musters nicht. Wir entspannen uns und wechseln in das entgegengesetzt der Pfeilrichtung liegende Muster.

Fazit

Das Enneagramm-Modell unternimmt den Versuch, Reaktionsmuster (Schutzstrategien) zu erläutern, die wir für die Sicherung unser Bedürfnisse einsetzen. Auch wenn alle Menschen die gleichen Grundbedürfnisse zu haben scheinen, unterscheiden wir uns doch dadurch, dass wir ein bestimmtes Bedürfnis mit besonderer Vehemenz einfordern, während wir die anderen gelassener überwachen. Wir haben gesehen, dass dieses „wichtigste Bedürfnis” unsere Aufmerksamkeit steuert und auf welche Art wir die Not kompensieren, in die wir durch eigene oder von unserer Umgebung ausgesandten Impulse geraten können:

  • Wer sich eigene Denkmuster und Glaubenssätze bewusst macht, kommuniziert auch in Konfliktsituationen klarer. Bewusstseinsarbeit versetzt uns sowohl in die Lage, offener über unsere eigenen Bedürfnisse und Gefühle zu sprechen, als auch Empathie für die unseres Gegenübers zu entwickeln.
  • Im Enneagramm sind den existenziellen Grundbedürfnissen (Autonomie, Liebe und Sicherheit) entsprechende Grundenergien (Bauch, Herz und Kopf) zugeordnet. Um den Mangel in unseren Grundbedürfnissen im Alltag zu kompensieren, greifen wir zu Schutzstrategien.
  • Wir verformen die betreffende Grundenergie, indem wir sie entweder blockieren, überentwickeln oder umfunktionieren. Aus drei existenziellen Bedürfnissen und drei Varianten der Kompensation ergeben sich so neun Charaktermuster.
  • Führt unsere Schutzstrategie in bestimmten Situationen nicht zum angestrebten Ergebnis, geraten wir in Stress, so dass wir in die Strategie eines anderen Charaktermusters wechseln (Stresspunkt). Liefert uns die Situation dagegen keinen Anlass, die Schutzstrategie anzuwenden, wechseln wir ebenfalls in die Strategie eines anderen Musters (Trostpunkt).
  • Das Enneagramm hilft uns dabei, menschliche Charakter- und Reaktionsmuster zu erkennen. Es führt uns vor Augen, wie und warum wir uns selbst und andere Menschen wahrnehmen. Es zeigt uns auch, warum wir auf unsere individuelle Art denken, fühlen und handeln.

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Dieser Beitrag ist ein Auszug aus meinem E-Book „Immer die richtigen Worte finden”. Nähere Informationen finden sich unter www.marzillier.com/ebooks-lesen.

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